Perspektiven der Stadtentwicklung bei den Rencontres La Foncière in Genf

16/03/2022

La Foncière

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5 Min


Am 5. Oktober 2021 trafen sich auf Einladung von La Foncière rund 200 Gäste im Hotel Mandarin Oriental in Genf zu einer Veranstaltung, die dem Thema «Perspektiven der Stadtentwicklung» gewidmet war und bei allen Teilnehmern für Wiedersehensfreude sorgte.

 

Warum «Perspektiven»? Die Rencontres La Foncière bieten anerkannten Experten und einem informierten Publikum den geeigneten Raum, um über aktuelle Themen in einen Dialog zu treten, der ohne vorgefertigte Meinungen und Floskeln auskommt. So trafen bei den Rencontres 2021 die Ökonomin Valérie Lemaigre, Chefin des Investment Office und Chefökonomin bei BCGe, der Historiker Gérard Duc, Autor des Buches «Lyon 77: la tour emblématique d’un quartier en mutation» über das symbolträchtige Hochhaus in Genf, und der Stadtarchitekt Igor Andersen, Experte für die Transformation von Städten, aufeinander.

 

 


«Das Bauwesen geht dorthin, wo die Wirtschaft hingeht» 

 

Wie jedes Jahr zeichnete Valérie Lemaigre ein Porträt der Weltwirtschaft und der Schweizer Wirtschaft mit Fokus auf dem Immobilienmarkt. Ihrem Porträt stellte sie statt eines Rückblicks auf die Krise ein Szenario der Erholung voran, das sie mit soliden Grunddaten untermauerte. Der Wiederaufschwung beruht auf einer Geldpolitik, die niedrige Zinssätze begünstigt, aber auch auf den weltweiten Exporten, die von der chinesischen Wirtschaft befeuert werden, sowie auf der starken Kurserholung der Verarbeitungsindustrie (insbesondere Halbleiter und Elektroautos, die fast 30 % der Nachfrage ausmachen). So entsteht eine positive Dynamik, in der Investitionen in F&E rund 50 % aller Investitionen ausmachen und insbesondere in der Schweiz positive Auswirkungen auf die Produktivität und Rentabilität von Unternehmen haben.

 

Für das Bauwesen hält Valérie Lemaigre fest, dass der Verbrauch der Haushalte zwar nicht auf das Niveau vor der Gesundheitskrise zurückgekehrt ist, die Ersparnisse jedoch gestiegen sind und in nachhaltige Anlagen (vor allem zur Verbesserung des privaten Lebensumfeldes, wie das Beispiel des Heimwerkersektors zeigt), Wertpapiere und Immobilien investiert werden. Bei Letzterem beobachtete sie eine Verschiebung der Nachfrage hin zu Einfamilienhäusern und Stockwerkeigentum einerseits und zu Industrie und Logistik andererseits, und zwar zu Lasten von Einkaufsarkaden, Büros und Hotels. Am Ende ihres Beitrags bemerkt Valérie Lemaigre, dass es zwar Risiken gäbe (Inflation, finanzielle Instabilität, fünfte Pandemiewelle), diese aber keine systemische Krise auslösen könnten: Höhere Preise bedeuten keine Blase!

 

«Lyon 77: das symbolträchtige Hochhaus eines sich wandelnden Stadtteils»

 

Gérard Duc, Historiker für Stadt, Verkehr und Mobilität, befasste sich anlässlich des Ab- und Wiederaufbaus des Hochhauses Lyon 77 mit der Entwicklung des Genfer Stadtteils Charmilles. Seine Arbeit dazu wurde unter dem Titel «Lyon 77: la tour emblématique d’un quartier en mutation» veröffentlicht.

 

Les Charmilles diente einst als Weideland und bildete lange Zeit ein Grenzgebiet zwischen Genf und Frankreich. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Stadtteil in die industrielle Entwicklung des Kantons eingebunden. Der berühmte Autohersteller Pic-Pic, die Fabriken Hispano-Suiza und Tavaro liessen sich hier neben den Ateliers des Charmilles nieder. Das Viertel, das bis dahin eher als Randgebiet der Stadt Genf galt, wurde ab den 70er und 80er Jahren immer stärker urbanisiert. Zunächst entstanden hier Wohngebäude, Gewerbeflächen, ein Einkaufszentrum und dann die Hochschule für Kunst und Design in Genf («HEAD»). Dieser Stadtteil ist längst kein Übergangsviertel mehr zwischen der Bebauung von Genf und später von Vernier/Châtelaine. Er ist inzwischen zu einem lesbaren städtischen Raum mit eigener Struktur geworden.
 

 


Städtische Dichte und urbane Qualität im Kontext der Klimakrise

 

Der Architekt und Stadtplaner Igor Andersen denkt über die Umgestaltung der Stadt nach, die der Klimawandel notwendig gemacht hat. Er sieht darin eine Quelle grosser Chancen, die Stadt in sich umzugestalten – vorausgesetzt, die betroffenen Zielgruppen teilen einige Überzeugungen miteinander.
 

1) Zuallererst zum Thema selbst. Einige Fakten: Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erfordert den Übergang vom derzeitigen Verbrauch von 10 t CO2/Einwohner zu 1 t CO2/Einwohner im Jahr 2050. Dasselbe gilt für den Verkehr. Hier muss der beliebte MIV (motorisierter Individualverkehr) bis 2050 um 80 % gesenkt werden.
 

2) Zur Arbeit an der Stadt selbst als Motor für eine neue urbane Qualität. Hier sind die Inhalte zahlreich: Verdichtung von Grünflächen zur Senkung der Umgebungstemperaturen, Überlegungen zu fussgängerfreundlichen gemeinschaftlichen Lebensräumen, Infragestellung belastender und veralteter Infrastrukturen, nachhaltige Renovation von Immobilienbeständen, geplante Veralterung von Parkplätzen usw.
 

3) Zur transformativen Kapazität von Arbeit, die in einem kollaborativen Modus mit allen betroffenen Akteuren erbracht wird. Und hier sieht Igor Andersen die Schweiz mit zahlreichen Trümpfen versehen, darunter ihre Dezentralisierung, die Entscheidungen auf der Ebene derer fördert, die die Folgen im Alltag (er)leben, oder die partizipatorische Demokratie, die auf Konsensbildung beruht.

 

Igor Andersen betrachtet den städtischen Wandel als Notwendigkeit, der Veränderungen des Lebensstils mit sich bringt, die glücklicherweise längst im Gange sind. Zunächst einmal im Bereich der Mobilität, die sich schnell entwickelt und von der Technologie und dem Aufkommen von Elektromotoren gestützt wird. Oder beim Schlüsselthema Ernährung, wo der Übergang von einer stark fleischbasierten zu einer vegetarischen Ernährung notwendig ist, was wiederum Vorteile für die Raumplanung und die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen mit sich bringen wird. Und schliesslich auch die Umgestaltung bestehender Gebäude, deren Notwendigkeit ausser Frage steht und die keine technische, sondern vielmehr eine rechtliche und finanzielle Frage ist. Letztendlich geht es bei der Debatte doch auch darum: Wie kann der Rahmen aussehen, in dem die Geldgeber dieser oftmals erheblichen Renovationen angemessen für die Risiken entschädigt werden, die sie eingehen, um die Nachhaltigkeit zu gewährleisten?