Von der Immobilienverbriefung zur Tokenisierung

19/03/2021

Vincent Pignon

Wecan Group

5 min

Gemäss dem World Economic Forum werden bis 2025 10% des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP), also 24 Trillionen US-Dollar, mithilfe der Blockchain-Technologie gespeichert oder gehandelt. Dieser Prozess wird als Tokenisierung bezeichnet.

 

In dieser Interviewserie erläutern uns fünf Experten die Tokenisierung in ihren jeweiligen Fachbereichen: Immobilienpromotion, unabhängige Vermögensverwaltung, Bank und Revision.

 

Im ersten Interview erklärt Vincent Pignon, Blockchain-Experte, die wichtigsten Grundsätze der Tokenisierung in der Immobilienverbriefung. Vincent Pignon ist Gründer und CEO der Wecan Group, welche u. a. die Plattform Wecan Tokenize lanciert hat. Er ist als Unternehmer im Bereich der Finanzen und der Distributed-Ledger-Technologie (Blockchain) tätig. Davor war er als Executive Director des Blockchain-Programms am CREA in Genf und als Blockchain-Berater beim Kanton Genf tätig. Vincent Pignon besitzt einen Doktortitel von Mines ParisTech.

 

Wie wirken sich digitale Technologien auf die Art und Weise aus, wie in Immobilien investiert wird?

Die digitalen Technologien wirken sich vor allem auf den ersten Schritt des Investierens, das Onboarding, aus. Heute können die Anleger über einen Prozess indirekt in Immobilien investieren, der zu 100% digital ist. Dies hat primär in den Jahren 2010 bis 2015 mit dem Crowdfunding in Form von Fremd- oder Eigenkapital begonnen. In der Folge gab es eine Weiterentwicklung, die über die Tokenisierung den Zugang zu verschiedenen Immobilienprojekten und zum Sekundärmarkt ermöglichte. Eine der Herausforderungen der Tokenisierung besteht darin, indirekte Immobilienanlagen über Plattformen wie diejenigen des Crowdfunding liquider zu machen.
 

Was sind die Vorteile der Tokenisierung gegenüber der Immobilienverbriefung?

Der wesentliche Vorteil der Tokenisierung besteht darin, dass durch eine digitale Repräsentation der Immobilienanlage oder des Vehikels, das in Immobilienanlagen investiert, die Transaktionskosten einer indirekten Immobilienanlage gesenkt werden können. Das Vehikel kann ein Fondsanteil sein, der durch einen digitalen Token repräsentiert wird, welchen die Anleger am Primärmarkt erwerben können. Dieser Token kann anschliessend «Peer-to-Peer», also unter Gleichgesinnten, gehandelt werden, ohne zwangsläufig den Umweg über eine Börse oder den ausserbörslichen Handel nehmen zu müssen.

 

Dieser Immobilientitel lässt sich in viel kleinere Teile teilen als ein Fondsanteil, der qualifizierten Anlegern vorbehalten ist. Dadurch ergeben sich für Retailanleger neue Perspektiven. Sie können nicht nur in Bruchteile solcher Anlagen investieren, sondern können auch ein Immobilienportfolio aus Teilen einer Wohnung, eines Hauses oder eines Gebäudes in verschiedenen Städten der Welt bilden, die viel einfacher gehandelt und weiterverkauft werden können.
 

Video nur in Französisch verfügbar
 

Wo steht der Schweizer Markt in Bezug auf die Tokenisierung?

Noch in den Kinderschuhen. Die ersten Initiativen gab es vor zwei Jahren. Die Finanzmarktaufsicht FINMA hat sich relativ schnell zu den verschiedenen Kategorien von Tokens oder – genauer gesagt – von «Security Tokens», die für die Tokenisierung eingesetzt werden können, positioniert.
 

Es gibt mehrere Initiativen im Immobilienbereich, so etwa in der Stadt Zürich oder in anderen europäischen Städten. Ausgangspunkt sind aber immer schweizerische Vehikel oder Plattformen. Der Markt ist im Entstehen begriffen.
 

Heute gibt es zwei Probleme, die angegangen werden müssen, damit diese Weiterentwicklung schneller erfolgt: Erstens muss es möglich sein, die digitalen Tokens zu sichern oder zu «verwahren», denn es handelt sich um Effekten, die bestmöglich zu speichern und zu sichern sind. Die Infrastruktur – namentlich die Bankinfrastruktur – dafür gibt es heute noch nicht. Zweitens ist ein liquider Sekundärmarkt notwendig, an dem die Anleger die Effekten handeln.
 

Dies sind die Herausforderungen, an denen die Schweizer Börse arbeitet. Einige Akteure wie Digital-Asset-Banken wurden im Jahr 2020 gegründet, allen voran Sygnum und Seba. Und andere Akteure entstehen in diesem Bereich gerade. Der Schweizer Markt der Tokenisierung dürfte im Zeitraum 2021 bis 2025 an Dynamik gewinnen.
 

Wie funktioniert die Tokenisierung genau? An wen richtet sie sich?

Die Tokenisierung funktioniert je nach zugrunde liegendem Vehikel oder Ziel anders. Die einfachste Form besteht darin, einen traditionellen Prozess, also die Verbriefung, zu nutzen und bei dieser Verbriefung lediglich die Effekten zu digitalisieren. Anstatt Immobilien zu verbriefen, wie dies in den letzten Jahren bei den Fonds der Fall war, werden die Immobilien nun tokenisiert. Die Immobilie wird als digitaler Token repräsentiert und dieser digitale Token wird anschliessend an die Investoren ausgegeben – unabhängig davon, ob es sich um institutionelle, qualifizierte oder Retailanleger handelt. Dies ist das einfachste Vorgehen: Die ursprüngliche Wertschöpfungskette wird beibehalten und man repräsentiert die geschaffenen Effekten digital. Dies gilt sowohl für Eigen- als auch Fremdkapital.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel für Tokenisierung geben?

Das erste Beispiel ist Capelli, ein Immobilienentwickler in der Schweiz, der eine auf Euronext kotierte Gesellschaft besitzt. Capelli hat eine Anleihe auf seine Immobilienverkäufe tokenisiert. In diesem Fall wurde also eine Anleihe tokenisiert und ausgegeben, die einen jährlichen Zins abwirft. Die Transaktion erfolgte über ein Luxemburger Vehikel, das tokenisiert wurde. Das zweite Beispiel, die Geneva Management Group, ist recht ähnlich. In diesem Fall wurden die Fondsanteile

tokenisiert und ausgegeben. Sie können nur von qualifizierten Anlegern erworben werden. Für den Handel mit den Anteilen gibt es einen ausserbörslichen Sekundärmarkt.
 

Und welche Risiken birgt die Tokenisierung von Anlagen?

Heute sind die Hauptrisiken weniger regulatorischer als technologischer Art. Die regulatorischen Hauptaspekte wurden von der Finanzmarktaufsicht FINMA und vom Bund geregelt. Der Rechts- und Regulierungsrahmen ist angemessen. Die grössten Herausforderungen, auf die auch im Rahmen dieser Interviewserie eingegangen wird, sind die steuerlichen Aspekte, namentlich die Besteuerung dieser digitalen Tokens, und die technologische Sicherheit des Haltens dieser Anlagen – mit dem Risiko, diese zu verlieren, oder möglicherweise einen Drittanbieter zu haben, dem man vertraut und der diese Anlagen für die Investoren verwahrt, also speichert. Eine Bank, ein Effektenhändler oder vielleicht auch ein externer Verwalter könnten diese «Security Tokens» für ihre Kunden verwahren.
 

Wie wird sich Ihrer Meinung die Tokenisierung und der Einsatz der Blockchain-Technologie bei Anlagen weiterentwickeln?

Es ist heute ganz offensichtlich, dass alle Anlagen tokenisiert werden, unabhängig davon, ob es sich um bankgängige Anlagen handelt oder nicht. Immobilienanlagen dürften noch stärker tokenisiert werden als bankgängige Anlagen. Es wird eine Herausforderung für alle Marktakteure, insbesondere für die Banken, sein, solche Anlagen in ihre verwalteten Vermögen aufzunehmen sowie Beratung und Speicherung anzubieten. Es ist eine branchenweite Herausforderung, die über die Schweiz hinausgeht und sehr wahrscheinlich den ganzen Erdball betrifft. Dadurch wird sich ganz sicher auch die Infrastruktur für die Bearbeitung dieser digitalen Anlagen – egal welcher Art – an den Börsen, in den Banken und bei den verschiedenen Branchenakteuren wie Brokern, Händlern, Fondsstrukturierern und Fondsverwaltern verändern. In einigen Jahren wird die Tokenisierung zum «Mainstream» in der Branche werden. Mir scheint, daran führt kein Weg vorbei.
 

Welche Ratschläge möchten Sie Personen geben, die in die Immobilientokenisierung einsteigen möchten?

Der Zeitpunkt ist richtig, um in die Immobilientokenisierung einzusteigen. Es gibt noch viel zu tun. So müssen insbesondere Standards definiert und Diskussionen mit den verschiedenen Beteiligten wie dem Regulator, den Marktbetreibern, den Banken und den Akteuren, die als Broker oder Dealer für Marktliquidität sorgen werden, geführt werden.

 

Man muss bedenken, dass wir noch ganz am Anfang dieser grundlegenden Entwicklung stehen, diese aber unvermeidlich ist. Man muss mit den Akteuren zusammenarbeiten, welche diese Transaktionen bereits mehr oder weniger beherrschen, um nicht das Rad neu zu erfinden, sondern um auf etwas bereits Bestehendem aufzubauen.

 

Die Motivation der Akteure, die in die Tokenisierung einsteigen, liegt vielmehr darin, die Prozessschritte zu verbessern, die Zeiten zu verkürzen und die Transaktionskosten zu senken und so den gesamten Prozess zu optimieren.


 

Vincent Pignon
Gründer und CEO
Wecan Group